Gerüche & Seele


In diesem Artikel möchte ich meine Gedanken zu bestimmten Passagen aus „Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders“ mit euch teilen. Eure Gedanken und Kommentare dazu sind natürlich ebenso willkommen: Als E-Mail und auch als Kommentar direkt unter dem Artikel.

Es wird sich hauptsächlich um Fragen drehen, die ich mir während des Lesens gestellt habe. Einiges bezieht sich auch auf meine persönliche Situation.

Diese Gedankensammlung stellt keine Buchbesprechung oder Interpretation dar.

Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken über die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefühl für menschliche Wärme und menschliche Kälte und überhaupt jede Leidenschaft. Zärtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie
Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. […] Auf der anderen Seite… oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines.

Wie stark ist der Zusammenhang zwischen Geruch und Gefühl tatsächlich? Ist Emotionslosigkeit charakteristisch für Menschen ohne Geruchssinn? Wie verhalten sich zwei Menschen ohne Geruchssinn untereinander? Anders oder genauso wie Madame Gaillard gegenüber der Kinder?

Wer wie er die eigene Geburt im Abfall überlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren.

Ich bin ebenso kämpfend in die Welt, in das Leben gestartet. Macht diese Tatsache tatsächlich einen größeren Lebenswillen, oder ist es nur ein anderer? Doch manchmal auch Wunsch nach einem / dem Ende und welche Rolle spielt dabei (gescheiterter) Perfektionismus (siehe Ende des Buches)?

Es gab […] keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest im Gedächtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische Eigengerüche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfügung, so deutlich, so beliebig, daß er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie wieder roch, sondern, daß er sie tatsächlich roch, wenn er sich ihrer wieder erinnerte; ja, mehr noch, daß er sie sogar in seiner bloßen Phantasie untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Gerüche erschuf […]

So oft wünsche ich mir eben genau diese Fähigkeit. So könnte ich immer wieder all die Momente mit Herzensmenschen erinnern, wann immer sie meine Seele braucht und müsste für die Deutlichkeit der Bilder und ein intensives Wiedererleben nicht länger und nie wieder auf den Zufall warten. Ist so etwas erlernbar?

Für seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Liebe – oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte – waren dem Kinde Grenouille völlig entbehrlich. Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um überhaupt leben zu können, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, […] war kein instinktiver Schrei nach Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast möchte man sagen ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen die Liebe und dennoch für das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden Umständen war dieses ja auch nur ohne jene möglich, und hätte das Kind beides gefordert, so wäre es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen.

Gefühle (können) den Tod bedeuten. Talent macht Perfektion möglich –> keine Gefühle notwendig und somit Kämpfen möglich. Grenouille ist nicht das, was alle Menschen sind, denn es heißt „Der Mensch ist ein soziales Wesen“.

der Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis ihm der höchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zurückhaltung auf, läßt sich fallen und krallt und bohrt und beißt sich in das fremde Fleisch… So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich
selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten.

Oft habe ich den Wunsch nach dieser Eigenschaft, denn es entledigt von all den Dingen, die davon abhalten Ziele zu erreichen, lässt keine Blockaden zu, die mich daran hindern. Hätte ich diese Eigenschaft gäbe es keine durch Ängste herbeigeführte Blockaden und somit wären ganz andere Ergebnisse möglich, mehr Perfektionismus machbar, wenn es so etwas dann überhaupt noch bräuchte.

Seine feine Nase entwirrte das Knäuel […] zu einzelnen Fäden von Grundgerüchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm unsägliches Vergnügen, diese Fäden aufzudröseln und aufzuspinnen.

Ebenso habe ich größtes Vergnügen daran Musik in seine einzelnen Fäden und Spuren zu zerlegen. Einzelne Töne oder Instrumente in einem Lied zu verfolgen und im nächsten Moment wieder das Gesamtbild wirken lasse und versuche Neues zu entdecken.

Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als Worte, Augenschein, Gefühl und Wille. Die Überzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfüllt uns, füllt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.

Können wir überhaupt erfassen und begreifen, welche Möglichkeiten uns diese Tatsache bietet? Wie unerschöpflich es ist?

Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnügen hatte er sich zurückgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein (Zu diesem Zitat und zu den folgenden Gedanken gehören die Kapitel 26 &27).

Diese beiden Kapitel sind mir persönlich am Wichtigsten. Grenouille taucht ein in die Welt seiner Gerüche in seine Erlebnisse und baut sich seine ganz eigene Geruchswelt und seinen ganz eigenen Tagesablauf und das alles nur in der Welt seiner Gedanken, seiner Träume. Ich wünsche mir oft selbst diese Möglichkeit und Fähigkeit dieser Träumerei, um mir ebenso selbst nahe sein zu können, um ebenso Wünsche und Träume ohne Gefahr erleben zu können. Es ist ein Vergnügen in einer Welt, in der man Selbst entscheiden kann, in einer Welt, in der man mit sich Selbst ist. In einer Welt, in der man für oder gegen sich sein kann. In einer Welt, in der man selbst eigene Welten erschaffen kann. In einer Welt, in der man in sich selbst, seiner Seele, seinen Träumen versinken kann. Schmerz und Versöhnung und Dinge, die man liebt mit der eigenen Seele intensiv erleben kann, selbst steuern kann. Doch dann:

Was, wenn die Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fässern verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht?

Angst! Ein zentrales Thema in meinem Leben. Angst geliebtes und Herzensmenschen zu verlieren, Angst Herzensmomente nicht mehr bewahren zu können, Angst, Momente zu verlieren, die am Leben halten, Angst, dass das was am Leben hält bedroht ist, weil ich es nicht auf gleiche Weise wie Grenouille in Erinnerung halten kann (siehe übernächster Gedanke).

Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener äußerst seltenen Menschen nämlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.

Mord aus Sehnsucht? Sehnsucht nach etwas, was er in seinem Leben nie erfahren hat – vielleicht aufgrund seines fehlenden Eigengeruchs? – Mord, um Leben zu können, Mord um endlich Liebe zu erfahren, weil auch Grenouille ein soziales Wesen ist und eben ohne emotionale Reaktionen von Anderen doch nicht Leben kann?

Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen – und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besäße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte köstliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefühl mit in den Schlaf hinübernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloß und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hätte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plötzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
Grenouille schrak auf. »Was ist«, so dachte er, »wenn dieser Duft, den ich besitzen werde… was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Düfte unvergänglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist flüchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor […] Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, […] und ich werde ihn nicht vergessen können, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, für einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe… Wozu also brauche ich ihn überhaupt?«
Dieser Gedanke war Grenouille äußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, daß er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besäße, unweigerlich wieder verlieren mußte. Wie lange würde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, […] Es würde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmähliches Hinausverdunsten seiner selbst in die gräßliche Welt.

Wegen all dieser Qualen und Ängste flüchten wir, er und ich in unsere Gedankenwelten und gehen nicht in die Realität, denn wir wissen, sie wird uns später unsagbar weh tun, wir flüchten, weil wir in diesen Welten nicht verlieren können. Im Stillen bin ich dein“. Im Stillen der Erinnerung, dem Wunsch, dem Tagtraum haben all diese Vorstellungen einen berauschenden Trost und Halt, den vor allem auch die Musik geben kann. Ist der Schmerz des Vergessens, oder der Schmerz darüber, dass man es niemals hat spüren können größer??? All diese Herzensmomente, die man von Beginn an nicht verlieren will, gehen von Beginn an (mit uns) dem Ende entgegen…

Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mädchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wußte, daß er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust würde entsetzlich teuer bezahlen müssen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.

Der Unterschied unserer Welten im Vergleich zur Realität ist, dass wir all das Positive einer tatsächlichen Begegnung spüren können wir können es mit der Personen in dieser Begegnung teilen und eine andere Intensität spüren und so viel mehr haben und tatsächlich so viel mehr mitnehmen. Und wissen, dass eine Begegnung Veränderung und evtl. etwas Neues bringen kann. Erinnerung und Vorstellungen jedoch nicht.

Er besaß die Macht […] die unüberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflößen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott – wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wüßte, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum. […] Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung Untertan, ja, sie wissen nicht einmal, daß es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schönheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist.

Wie stark prägt unser Eigengeruch unsere Persönlichkeit(sentwicklung)?
Fluch und Segen seines Talentes. Genialität = Sicherheit. Diese jedoch ist Verborgen. Er selbst kann geben, was er niemals hatte und bekommen wird (außer nach seinem Entschluss Suizid zu begehen). Er konnte all das nur in den Gerüchen finden, die er für sein Parfum brauchte. Ich glaube er hat dieses Talent eben gerade weil er keinen Eigengeruch hat, als eine Möglichkeit des Umgangs mit dem fehlenden.

Hat die Seele an sich einen Geruch, einen bestimmten Duft?

4 Gedanken zu „Gerüche & Seele

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